Latein ist...
1. Der Königsweg zu einem vertieften Sprachverständnis
Wir leben im Zeitalter der Kommunikation, in dem Sprachkompetenz wie nie zuvor gefordert ist. Latein vertieft den bewussten Umgang mit Sprache in besonderem Maße.
2. Ein Trainingsfeld für die Muttersprache
Landesweite Deutschtests zeigen, dass Schüler mit Lateinkenntnissen immer besser abschneiden als solche ohne diese Kenntnisse, da sie „für komplexe deutsche Texte eine höhere Verstehens- und Lesekompetenz“ (Professor Lebek, Universität Köln 2003) aufweisen.
3. Ein Trimm-dich-Pfad des Geistes
Altbundespräsident Roman Herzog hält „eine intime Kenntnis des Lateinischen (für ein) hervorragendes Denkpropädeutikum“. Denn die „Schulung von Intelligenz, Beobachtungsschärfe, Entscheidungsstärke, sprachlicher Kreativität, Durchhaltevermögen und Belastbarkeit ist […] Ergebnis einer langen, intensiven Sprach- und Übersetzungsarbeit“ (zitiert nach Friedrich Maier, S. 37).
4. Die Brücke zu modernen Fremdsprachen
Wer Latein lernt, lernt fünf weitere Fremdsprachen mit. Die romanischen Sprachen (Spanisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch Rumänisch) sind Abwandlungen des Lateinischen (Vulgärlatein), weshalb ihr Wortschatz im Wesentlichen dem Lateinischen entspricht. Die Kenntnis des Lateinischen vereinfacht und verkürzt daher den Weg zu den romanischen Sprachen vor allem im Bereich der passiven Sprachkompetenz. Der englische Wortschatz ist bis zu 60 % aus dem Lateinischen ableitbar.
5. Ein Labor zur Analyse einer „hinterlistigen“ Rhetorik
Kenntnisse der antiken Rhetorik nutzen noch heute der Journalismus und die Werbung. Die Analyse rhetorischer Mittel (von Kant „hinterlistige Kunst“ genannt, da sie Gutes wie Schlechtes bewirken kann) – etwa in den Verrinen Ciceros – hilft, einen eventuellen Missbrauch dieser Mittel in heutiger Zeit aufzudecken.
6. Der Fahrstuhl zu den Wurzeln Europas
Beispiel Demokratie: In Ciceros de re publica liest man Platons negative Bewertung der Demokratie. Sie ließ diese für nahezu 2000 Jahre aus der europäischen Geschichte bis hin zur französischen Revolution verschwinden. Thomas Hobbes spricht in seinem Leviathan von 1651 von der „Naturbrutalität des Menschen“ (homo homini lupus); Thomas von Aquin beschwört um 1250 in der Herrschaft der Fürsten die „Liebesgemeinschaft“ (homo homini amicus). Wie ist der Mensch wirklich? Welche Staatsform ist dem gemäß?
7. Eine Schatzkammer europäischer Sprachbilder
Im Zeitalter der Wissensvermittlung werden Metaphern, also Sprachbilder, zurückgedrängt – beispielsweise das Bild des gubernators, des Steuermanns, der das Staatsschiff lenkt (bei Cicero und Horaz). Sie zu verstehen bedeutet, sich den historischen Hintergrund oder die Mythen erarbeiten zu müssen. Doch ein sachlich-nüchterner Text „hat alle Anschaulichkeit verloren, er ist leblos, spricht sinnlich nicht an, es fehlt ihm die Plastizität, von der her einem blitzartig das Gemeinte in seinem vollen Sinn bewusst wird. Metaphern sind kein bloßes Dekor, sie geben der Sprache Vitalität, die Kraft, den Hörer oder Leser auch emotional zu beteiligen, gewiss auch Schönheit“.
8. Die Studierstube für europäische Grundtexte
Drei Texte hier exemplarisch: den Eid des Hippokrates aus dem 5. Jh. v. Chr., der in seiner lateinischen Übersetzung tradiert wurde; den Gottesstaat des Augustinus von 410 n. Chr., in dem es u.a. um den gerechten Krieg geht; den Sonnengesang des Franz von Assisi, der bald nach 1225 aus dem Umbrischen ins Lateinische übersetzt wurde, damit ihn alle verstehen konnten (ein Lob Gottes und seiner Schöpfung). Derartige Texte dienen der Vermittlung von Werten.
9. Der Treffpunkt mit Menschen, die die Welt veränderten
Nur zwei Menschen beispielhaft: Alexander den Großen und Caesar. Alexander hat die Hellenisierung des Ostens, Caesar die Romanisierung des Westens betrieben – beides wirkt noch heute nach. Beide waren Machtmenschen, und beide haben Nachfolger in der Geschichte gefunden, mit denen man sich kritisch auseinandersetzen muss.
10. Der Zugang zu den Quellen von Dichtkunst und Philosophie
Eines der schönsten Gedichte ist Catulls Odi et amo. In der Übersetzung von Eduard Mörike lautet es:
„Hassen und lieben zugleich muss ich. – Wie das?
Wenn ich’s wüsste! Aber ich fühl’s,
und das Herz möchte zerreißen in mir.“
In Ovids Metamorphosen (Verwandlungsgeschichten) finden sich mit Ikarus oder Orpheus und Eurydike „in die Psyche Europas versenkte Erinnerungsbilder, […] viele von ihnen als abendländische Symbolfiguren“. Die Briefe an Lucilius des Philosophen Seneca lassen den Menschen über sich selbst und den Sinn des Lebens nachdenken. „Dum homines sumus, humanitatem colam.“ (Solange wir Menschen sind, wollen wir die Menschlichkeit hochhalten!)
Der hier vorliegende Text ist ein Auszug aus Friedrich Maier, Warum Latein? Zehn gute Gründe, Stuttgart 2008.